Laufsucht oder Orientierung?
Warum wir laufen, wenn wir uns verlieren – und finden wollen.
Kennst du das Gefühl, dass du raus musst? Dass der Wald, der Weg, der Lauf wie ein innerer Kompass ist – wie ein Ort, an dem du dich wieder sortierst? Ist das schon eine Sucht? Oder ist es vielleicht nur ganz natürlicher Orientierungssinn?
Wir müssen über Sucht sprechen.
Sucht klingt sofort negativ – nach Kontrollverlust, Abhängigkeit, Krankheit. Aber Sucht ist zunächst einmal ein starkes inneres Bedürfnis. Etwas, das wiederkehrt, das sich in unser Leben einschreibt, das sich gewissermaßen selbst organisiert. Und das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches – im Gegenteil: Es liegt zutiefst in unserer Natur, Muster zu bilden.
Orientierung beginnt mit Wiederholung.
Routinen – ein uraltes Überlebensprinzip.
In der Wildnis überlebt nicht der Stärkste, sondern derjenige, der seine Energie klug einteilt. Tiere gehen oft dieselben Pfade. Nicht, weil sie keine Alternativen sehen – sondern weil Wiederholung Sicherheit schafft. Ein bekannter Weg birgt weniger Gefahren. Der Körper weiß, was kommt. Und genau das reduziert Stress.
Auch wir Menschen funktionieren nach diesem Prinzip. Unser Gehirn liebt Wiederholungen. Es spart Energie, indem es Routinen erschafft – Bewegungsmuster, Gedankenmuster, Alltagsmuster. Das gibt Struktur in einer Welt voller Ungewissheiten. Auch Sport – und ganz besonders das Laufen – kann zu einer solchen stabilen Säule werden.
Das Gehirn liebt Orientierung.
Beim Laufen wird das sogenannte Belohnungssystem aktiviert. Dopamin sorgt für Vorfreude, Motivation und Zielstrebigkeit. Endorphine und körpereigene Cannabinoide wirken schmerzlindernd, angstlösend, manchmal sogar euphorisierend. Serotonin stabilisiert unsere Stimmung. Kein Wunder also, dass Laufen sich so gut anfühlt – und dass wir es immer wieder wollen.
Diese biochemischen Prozesse sind Teil einer natürlichen inneren Karte. Sie geben Richtung. Und sie wirken stabilisierend – wie eine Art innerer Nordstern.
Die Frage ist nur: Ab wann kippt das Ganze?
Der schmale Grat zwischen heilsam und zwanghaft.
Eine gesunde Routine gibt Halt. Eine Sucht nimmt ihn weg – vor allem dann, wenn wir sie brauchen, um uns selbst zu spüren. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, eine Pause zu machen. Wenn Schmerz, Erschöpfung oder soziale Beziehungen zweitrangig werden. Wenn das Laufen nicht mehr Ausdruck von Lebendigkeit ist, sondern Flucht.
Und doch – ist diese Flucht nicht manchmal notwendig?
Aber wann wird das Bedürfnis zur Abhängigkeit?
Wenn Laufen nicht mehr aus Freude geschieht, sondern aus Zwang. Wenn Schmerz, Erschöpfung oder soziale Bindungen ignoriert werden. Wenn der Lauf nicht mehr führt, sondern flieht.
Dann hat sich etwas verschoben – nicht im Körper, sondern in der inneren Landkarte.
Philosophisch gesehen:
Der Mensch ist ein orientierungssuchendes Wesen. In einer Welt voller Reize, Geschwindigkeit und Unsicherheit entwickeln wir Strategien, um uns zu verankern. Manchmal werden daraus kleine Süchte – oder große.
Doch vielleicht geht es gar nicht darum, keine Süchte zu haben – sondern die richtigen.
Der Mensch ist ein Wesen des Mangels. Wir suchen ständig nach etwas, das uns ganz macht. Nach Sinn. Nach Verbindung. Nach Klarheit.
Vielleicht entwickeln wir zwangsläufig Süchte – oder besser gesagt: Sehnsüchte – weil wir spüren, dass etwas fehlt. Und vielleicht ist das gar nicht krankhaft. Vielleicht ist es Teil dessen, was uns lebendig macht.
Wenn Laufen zu deinem Anker wird – zu deiner Erdung, zu deiner Zeit mit dir selbst – dann darf das intensiv sein. Dann darf es ritualisiert sein. Vielleicht sogar süchtig. Entscheidend ist nicht ob du läufst – sondern wie du es tust.
Der Wald als Spiegel.
In der Natur zu laufen ist mehr als Bewegung. Es ist eine Rückverbindung. Ein Abgleich mit etwas Größerem. Die Bäume haben keine Meinung über dich. Der Pfad urteilt nicht. Der Untergrund schenkt echtes Feedback – und zwingt uns zur Achtsamkeit.
Gerade barfuß spüren wir wieder, wo wir stehen. Wohin wir treten. Wie es sich anfühlt, da zu sein. Orientierung beginnt mit Spüren.
Der Barfußblick auf das Thema:
Barfußlaufen bringt uns näher an die Grenze. Es konfrontiert uns mit dem echten Spüren – mit den Impulsen aus dem Fuß, mit der Stimme aus der Wade, mit dem Moment. Hier geht es nicht um Pace, nicht um Leistung, nicht um Distanz. Es geht um Präsenz.
Das macht es schwieriger, süchtig im klassischen Sinne zu werden. Denn Achtsamkeit schützt vor Getriebenheit.
Vielleicht brauchen wir Süchte. Vielleicht müssen wir nur lernen, bewusste, lebendige, gesunde Formen davon zu kultivieren. Bewegung statt Betäubung. Verbindung statt Flucht. Spüren statt ignorieren.
Vielleicht ist Laufen gar keine Sucht. Vielleicht ist es Navigation.
Zurück zu dir. Zurück in deinen Körper. Zurück in die Natur.
Die entscheidende Frage ist also nicht: Bin ich süchtig nach Laufen?
Sondern: Wohin laufe ich?
Und finde ich dort mich selbst – oder laufe ich an mir vorbei?
Hinweis in eigener Sache:
In diesem Beitrag haben wir das Thema Laufsucht philosophisch betrachtet – als mögliche Suche nach Orientierung, Verbindung und innerer Ruhe.
Dabei ging es nicht darum, echte Abhängigkeit zu verharmlosen. Wenn eine „Sucht“ dazu führt, dass du dir selbst oder anderen schadest, deinen Körper übergehst oder soziale Beziehungen darunter leiden – dann ist es Zeit, genauer hinzuschauen.
Sucht ist kein Charakterfehler, sondern ein Signal.
Und es ist stark, sich Hilfe zu holen.
Hier findest du Unterstützung:
- https://www.suchthotline.info/
- https://www.sucht.de/
- https://www.bzga.de/themenschwerpunkte/suchtpraevention/
Oder wende dich an deinen Hausarzt, eine psychologische Beratungsstelle oder den sozialpsychiatrischen Dienst deiner Stadt.